2010/06/15

ERINNERUNGEN VON MORGEN (VON MAXIM BILLER)

Als mein Vater im April 1971 die Tür unserer Prager Wohnung hinter sich abschloss und zum Flughafen fuhr, hätte er danach den Schlüssel wegwerfen können – denn wir kehrten nie wieder in die Krkonosska 3 zurück. Alles, was wir brauchten, war schon in Hamburg: Bettdecken, Bücher, ein paar Ikonen zum Verkaufen, Geschirr, Besteck. Alles, was wir nicht brauchten, blieb für immer in Prag.

Stellen Sie sich eine Vierzimmerwohnung vor, in der Beletage eines Jugendstilhauses, in Vinohrady am Riegerpark, wo Mitte der 1960er-Jahre eine relativ glückliche Prager Intellektuellenfamilie lebt. Draußen werden die Röcke immer kürzer, die Musik immer lauter, keiner hat mehr Angst vor den Kommunisten und ihrer Spießerpartei. Und drinnen wird das Leben auch immer schöner. Es fing mit einem luxuriösen, fast schon italienischen Stehaschenbecher aus Messing an, den meine Eltern beim einzigen Altwarenhändler Prags, der nicht nach dem Gottwald-Putsch verstaatlicht wurde, entdeckt hatten.

Solche Aschenbecher hatten in der paradiesischen Vorkriegszeit überall in Wartesälen von Bahnhöfen und in Bahnhofsbars gestanden, und plötzlich stand so einer in unserem Wohnzimmer. Das bedeutete etwas, das merkten sogar wir Kinder. Während die Erwachsenen bis drei Uhr nachts über Politik diskutierten und sich manchmal äußerst unpolitische Blicke zuwarfen, aschten sie sehr bewusst hinein, die Männer hastig, cool, die Frauen mit ihrem archaischem Sinn für Eleganz und Timing.

Damals erst fing meine Mutter – längst über 30 – zu rauchen an. Und in dieser Zeit begannen meine Eltern, in ihrer freien Zeit in Antiquitätenläden zu gehen und Bekannte nach alten Möbeln zu fragen, die sie nicht brauchten. Einmal lasen sie in „Vecerni Praha“ eine Anzeige und kauften in einem Prager Villenviertel von einem alten, freundlichen Apotheker einen honigfarbenen Biedermeiersekretär. Im Geheimfach des Sekretärs entdeckte meine Mutter Dokumente aus der Nazizeit, die verrieten, dass der Apotheker ein Verbrecher war, dessen Apotheke vor dem Krieg Juden gehört hatte. Das machte den Sekretär natürlich noch interessanter. 

Nach dem Sekretär kam das Barocksofa mit der viel zu harten Rückenlehne, dann kamen die Art-déco-Vitrinenschränke, in die meine Eltern auf russische Art Bücher statt Porzellan stellten, dann ein riesiger dunkelbrauner Eichentisch aus der Masaryk-Zeit, dann ein strahlender alter Rabbiner, von einem Rembrandt-Schüler sehr lange nach Rembrandts Tod gemalt – und schließlich kamen die Russen und 100 Jahre Emigration.

In Hamburg zogen wir, obwohl wir noch nicht viel Geld hatten, bald wieder in ein Jugendstilhaus in der Nähe eines Parks. Und bald begann sich die Wohnung mit ähnlichen Bildern und Möbeln zu füllen wie in Prag, nur dass sie nicht mehr ganz so ausgesucht waren. Einiges kam vom Sperrmüll, ein paar Möbelstücke hatten die Vormieter dagelassen, so wie die riesige, hässliche, sympathische Kaiser-Wilhelm-Anrichte, die bis heute im Wohnzimmer meiner Eltern steht, oder der schwere dunkelbraune Schreibtisch aus der Designsteinzeit, an dem mein Vater immer noch jeden Tag von morgens bis abends sitzt und seine Übersetzungen macht und am friedlichsten wirkt.

Was ist schon Geld, wenn die Stimmung stimmt! Wir fühlten uns alle von Anfang an sehr gut in der Hamburger Wohnung. Sie hatte schnell wieder diesen für uns typischen Prager-Frühling-Touch, dieses Irgendwas, das entsteht, wenn man gute und halb gute Antiquitäten, tschechische Pop-Art-Bilder, alte Teppiche und jüdischen Devotionalien zusammenrührt, wenn Dinge, mit denen man sich umgibt, mehr bedeuten als „Habe ich im neuen AD gesehen“. Hamburg, das war bald wieder dieser Nussbraun-schön-gemütlich-Mix, dessen befreiende, freundliche Stimmung auch immer damit zu tun hat, dass es in dieser Familie, solange es nicht um Familienfragen geht, keinen einzigen Ideologen gibt, weder politisch noch ästhetisch. Was uns gefällt, kaufen wir und stellen es rein, legen es hin, hängen es auf. Sind darum die Leute so gern bei uns? Fühlen sie sich deshalb in unseren Wohnungen wie, sagen wir, in einem burlesken, menschenfreundlichen Jaroslav-Hasek-Roman und nicht in einer eisigen Peter-Handke-Erzählung?

Ich sage „Wohnungen“, weil meine Schwester und ich seit Jahren genauso leben. Wir haben es natürlich nicht gleich bemerkt. Sie wohnt in London, ich wohne in Berlin. Aber wann immer ich zu ihr komme, sage ich dasselbe, was sie sagt, wenn sie mich besucht: „Hier sieht es ja genauso aus wie bei Mama und Papa!“ Nicht ganz, antwortet dann der andere, aber etwas schon. 

Bei ihr gibt es natürlich längst ein paar englische Ecken – ich frage mich zum Beispiel, ob ihr Schreibtisch Early oder High Victorian oder bloß vom Flohmarkt in Notting Hill Gate ist –, aber der Rest ist total Hamburg und Prag, überall Bücher, Bilder, Lampen, Sessel, zwischen denen man sich sofort wieder meine jungen Eltern rauchend, diskutierend und flirtend in ihrer besten Prager Zeit vorstellen kann. Mich hat leider ein bisschen der westliche Designwahn erfasst, eine Seelenkrankheit, deren Ursachen ich bis heute nicht wirklich verstehe. Wieso liebe ich Möbel aus den goldenen, friedlichen Tagen des Westens so sehr wie andere Menschen Kunst oder Literatur? Was bedeuten mir Hocker von Alvar Aalto, Lampen von Joe Colombo, Tische und Stühle von Jean Prouvé und Tapio Wirkkala, die ich mir eigentlich gar nicht leisten kann? Jetzt verstehe ich: Ich fühle mich zwischen ihnen so gut, schön und fortschrittlich, wie die berühmten Designer der zweiten Hälfte des 20. Jahunderts sich gefühlt haben müssen, als sie sie entwarfen. Und dann auch noch dieser Zeitmaschineneffekt! Kaum sitze ich in meinem aberwitzig schönen Butterflychair von Pierre Paulin oder auf dem beigebraun karierten Klappsessel von Takeshi Nii, fliege ich in die Krkonosska 3 zurück. Es ist zwar alles bei mir ein bisschen heller und hochnäsiger als bei Mama und Papa – aber am Ende ist es trotzdem wieder unser böhmischer Nussbraun-schön-gemütlich-Mix.

Wir wohnen, wie wir gelebt haben. Das ist es, was ich sagen wollte. Und wir leben, wenn uns das Glück nicht verlässt, immer so gut, dass die Dinge, mit denen wir uns umgeben, jetzt schon die schönen Erinnerungen von morgen sind. Verstehen Sie ungefähr, was ich meine? In meinem Wohnzimmer hängt eine riesige Tuschezeichnung von Richard Fremund. Fremund war ein paar Jahre lang einer der besten tschechischen Maler. Er fing in den kalten 50ern als Matisse-Bewunderer an, machte als Lichtenstein-Alter-Ego weiter und endete als verwirrter Folklorist. Der Frauenkopf in meinem Wohnzimmer stammt aus der guten Zeit. Er hat ihn während einer Vorstellung im Semafor-Theater live auf der Bühne gemalt. Er zeigt – Pop Art at it’s best – eine der sechs Frauen Heinrichs des VIII., um deren Schönheit und Frechheit es in dem Stück geht. Das Bild ist groß, poetisch, weich, expressiv. Ich kenne es, seit ich ein Junge in Prag war. Dort hing es zuerst, dann in Hamburg, und als ich von zu Hause auszog, gab meine Mutter es mir mit. Sie hatte es bei unserer Flucht aus der Krkonosska retten können, indem sie es in letzter Sekunde aus dem Rahmen nahm, zusammenrollte, ein Gummi aus den Haaren zog, darüberschob und dann die Rolle neben mich auf die Rückbank unseres Fiat 500 warf. Sollte ich eines Tages auch ganz schnell weggehen und die Tür meiner Wohnung für immer hinter mir zuschließen müssen, nähme ich nur dieses Bild mit, sonst nichts.

Maxim Biller, geboren 1960, stammt aus der Tschechoslowakei und emigrierte 1970 nach Deutschland. Der Schriftsteller und Journalist schreibt derzeit die satirische Kolumne „Moralische Geschichten“ für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Sein Selbstporträt „Der gebrauchte Jude“ erscheint im November 2009 bei Kiepenheuer & Witsch.

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